Wissenschaftliches Denken an der UDS

In den letzten Semestern ist zunehmend zu beobachten, dass die Studierenden stets praxis- und anwendungsorientierte Module sehr positiv bewerten und die eher mit wissenschaftlichem Anspruch versehenen Module meiden oder eher negativ bewerten. Zudem werden Präsentationen oder Beiträge von Kommilitonen in der Regel gelangweilt oder gar nicht – weil abwesend – zur Kenntnis genommen oder diskutiert. Man lässt sich auf eine „wissenschaftliche“ Diskussion nicht einmal im Ansatz ein. Das ist zutiefst bedauerlich, da man es gerade an der Hochschule lernen kann und soll. Gut, zumeist sind auch die studentischen Vorträge nicht von Tiefgang geprägt, da die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema nicht im Vordergrund zu stehen scheint, sondern es vielmehr darum geht, die Präsentation aufgrund der damit verbundenen ECTS zu halten (oder besser zu erledigen). Die Chance, es als Plattform für das Üben von Argumentationen und der Interaktion untereinander oder für die Darstellung komplexer Zusammenhänge zu sehen, wird in der Regel nicht genutzt. Dies ist sicherlich zunächst einmal verständlich, da wissenschaftliche Zusammenhänge und Erkenntnisse eher schwieriger zu erfassen und zu vermitteln sind. Aber Wissenschaftlichkeit hat nun eben auch mit der originären Idee des Studierens zu tun. Man muss sich in die Literatur und die Erkenntniswelt einarbeiten und lernen einzuordnen, was aus der Recherche wichtig und eher unwichtig ist. Man muss letztlich Wissen ansammeln und strukturieren und das Vorgehen stets begründen und Argumente abwägen und beurteilen können. Ok, da ist es angenehmer, in einem praxisorientierten Projekt zu arbeiten, wo man erlernte Kenntnisse konkret umsetzen kann. Um nicht missverstanden zu werden, natürlich sind solche Projekte wichtig und auch die UDS wird sie gerne anbieten. Doch ist anzumerken, welche Grenzen den Studierenden gerade in den Praxisprojekten gesetzt sind, weil sie nie richtig gelernt haben, wissenschaftlich zu denken oder gar zu argumentieren (dies zeigt sich allerdings auch in den Seminararbeiten oder Examensarbeiten). Besonders deutlich wird dies, wenn in den Projekten empirische Methoden eingesetzt werden. Hier zeigt sich dann sehr deutlich, dass die Grundkenntnisse – nicht nur in der Methodik der empirischen Sozialforschung (hier u.a. Hypothese, abhängige/unabhängige Variable, Modellstruktur, Validität, Reliabilität) – des wissenschaftlichen Vorgehens (genannt seien nur mal Begriffe wie zielgerichtetes und methodisch kontrolliertes Vorgehen, Fundierung der Aussagen, Begriffsklarheit, wissenschaftliche Argumentation) nicht vorhanden sind.

Unser Wissen von der Welt geht generell auf Forschung zurück. Forschen ist eine urmenschliche Tätigkeit, die nicht erst von Wissenschaftlern erfunden wurde. Forschung ist auf Erkenntnisgewinn aus. Bereits als Kleinkinder erforschen wir die Welt und legen uns nach und nach aufgrund unserer Erfahrungen unsere Vorstellungen und Beschreibungen von der Welt zurecht. Alltagsmenschen wie Wissenschaftler sind Forscher, Empiriker, die ihr Erfahrungswissen in der Welt sammeln und zu Theorien zusammenfügen. Nur stellen Wissenschaftler andere Ansprüche an ihr gesammeltes Wissen als es Alltagsmenschen tun. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen, aber ebenso gewichtige Unterschiede.

Wenn gerade in den Anfangssemestern philosophische Exkurse eingebracht werden, wird dies zumeist mit viel Unverständnis seitens der Studierenden quittiert. Dabei ist es unabdingbar zu erörtern, was Wahrheit ist, wie man Realität zu bewerten hat, was Wissenschaft tut und wie sie sich vom Alltagswissen unterscheidet. Also grundsätzlich klarzustellen, was eigentlich Wissenschaft ist. Und die Studierenden werden überrascht sein, wie wenige Menschen dies wirklich wissen. Und hinsichtlich der Wahrheit muss an der Universität logisch belegt werden, dass ihre Realität nicht wirklich existiert und das „warum“ noch nicht einmal klar ist. Danach geht es dann ja eher um praktische Anwendung, also wie man vom leeren Blatt zu einer Hausarbeit gelangt, Vermittlung aller Grundtechniken wissenschaftlichen Arbeitens von Zitation bis Datenerhebung usw.

Wissenschaftliches Arbeiten in diesem Sinne erfordert in Anlehnung an Bohl (2008) in Form einer eigenständigen Gedankenarbeit die intensive Auseinandersetzung mit fremdem Gedankengut. Es gilt Bezüge herzustellen, Begrifflichkeiten und Definitionen zu diskutieren, Argumentationen nachzuzeichnen und eine eigene Perspektive begründet herauszuarbeiten. Das Vorgehen ist zielgerichtet und methodisch, die gemachten Aussagen sind fundiert, besitzen inhaltliche Tiefe, sind nachvollziehbar und folgen einem speziellen Schreib- und Zitationsstil. Gemeinhin fragt sich der Studierende, wozu wissenschaftliches Arbeiten nun eigentlich notwendig ist. Wissenschaftliches Arbeiten ist eine der Grundfertigkeiten, die jeder Studierende der Hochschule im Rahmen seines Studiums erlernt und in Form von Hausarbeiten oder der Bachelorarbeit praktisch nachweist. Wissenschaftliches Arbeiten und Denken ist nicht nur eine Basisfertigkeit für das Studium oder eine wissenschaftliche Karriere, es hilft auch in der Praxis Probleme strukturiert zu lösen, sich neues Wissen gezielt anzueignen und neue Methoden auf ihre Brauchbarkeit hin zu beurteilen (dazu auch Kotthaus 2014).

Ein wichtiger Aspekt in den UDS-Modulen ist die wissenschaftliche Denkweise. Hypothesen bilden, Evidenz generieren oder evaluieren – das ist in allen Fächern relevant, wenn es auch unterschiedliche Gewichte gibt: Wissenschaftliches Denken hat mehrere Dimensionen. Es gibt sowohl die rein theoretische Forschung um der Theoriebildung willen. Dafür steht beispielhaft der Physiker Nils Bohr. Ihm sagt man heute nach, nicht an der praktischen Nutzung seiner Kenntnisse interessiert gewesen zu sein. Auf der anderen Seite steht Thomas A. Edison, der kein Interesse an der Theoriebildung hatte, sondern sich für die Stromversorgung in Amerika interessierte. Und dann gibt es die anwendungsbezogene Forschung, etwa von Louis Pasteur. Pasteur ist mit einem Problem aus dem Alltag in sein Labor gegangen und hat mit seinen Erkenntnissen die Praxis verbessert. Für viele in der Wissenschaft ist es genau das, was sie anstreben: Man sucht als Ausgangspunkt ein praktisches Problem und betreibt erkenntnisorientierte Forschung, um sie in der Anwendung wirksam werden zu lassen (vgl. Fischer et. al. 2013).

Es gilt eine klare Regel: Je mehr Fachwissen man hat, desto sicherer ist man im Argumentieren und desto einschlägiger sind die Begründungen! Auch darauf wird in der UDS stets viel Wert gelegt. Dazu kommt die Intelligenz: Beim Lösen von Problemen spielen allgemeine kognitive Fähigkeiten eine Rolle. Über Fachwissen und Intelligenz hinaus gibt es jedoch eine strategische Fähigkeit, die Konzepte und Ergebnisse aus einem wissenschaftlichen Fach gezielt anzuwenden, um Probleme zu lösen oder Theorien weiterzuentwickeln (vgl. Fischer & Järvelä 2014).

Im Idealfall wird in allen UDS Studienprogrammen gelernt, wissenschaftlich zu denken und zu argumentieren für das jeweils spezifische Fachgebiet. Aber das geht nicht immer so weit, dass die Absolventen das Wissen in der Praxis gut anwenden können und sich ein Leben lang in ihrem Bereich weiterqualifizieren. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass das im Studium nicht so richtig vermittelt wurde. Die Mehrzahl der Studierenden verlassen dann die Hochschule, ohne gelernt zu haben, die Befunde aus ihrem Fach in ihrer Relevanz für die eigene Arbeit einschätzen zu können, gegebenenfalls anzuwenden und das, was neu entsteht, aufzugreifen, also auch sich lebenslang das sich weiter entwickelnde Wissen des eigenen Fachs zu holen.

Ein Ansatzpunkt ist, das Studium entsprechend zu verändern. Es ist nun wohl an der Zeit, dies konsequenter umzusetzen (auch im Zuge des transformativen Lernens (nach Mezirow), das einen Prozess darstellt, bei dem durch kritische (Selbst-) Reflexion bereits bestätigte eigene Vorannahmen (Perspektiven, Denkweisen, Denkgewohnheiten) transformiert werden, um diese sowohl zu verändern als auch zu erweitern, vgl. dazu Zeuner 2007). Dabei steht im Mittelpunkt, ob und wie sich wissenschaftliches Denken mit bestimmten Interventionen gezielt fördern lässt und ob das auch fachübergreifend möglich ist. Ein anderer Ansatz ist es, die Aufbereitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verändern, z.B. dass die Praxis sie besser nutzen beziehungsweise überhaupt finden kann.

Es kommt auf beides an: die Studierenden besser zu qualifizieren, damit sie später in der Praxis erkennen, dass sich ein Problem mit wissenschaftlichen Methoden und Konzepten lösen lässt. Und zudem müssen Aufbereitungen von wissenschaftlichem Material leicht zugänglich sein. Eine andere Möglichkeit ist, die Darstellungsweise zu vereinfachen (vgl. Fischer et. al. 2014).

Natürlich hat auch die Digitalisierung Auswirkungen auf das wissenschaftliche Denken. Wenn es um die Nutzung wissenschaftlicher Evidenz in der Praxis geht, sind Suchmaschinen große Hilfsmittel. Man kommt leichter an Informationen heran, aber das heißt nicht, dass man gut aufbereitete Materialien findet, die auch zu verstehen sind. In der Medizin wird bereits darüber geforscht, wie es diagnostische Prozesse beeinflusst, wenn manche Patienten schon mit viel Wissen zum Arzt kommen. Die Rede ist von einem „shared clinical reasoning“. Das könnte künftig auch in anderen Bereichen eine Rolle spielen. Mithilfe neuer Technologien lassen sich auch Lernumgebungen entwickeln, die wissenschaftliches Argumentieren gezielt fördern, etwa durch Visualisierungstechniken (vgl. Fischer et al 2013).

Studierende müssen in allen Modulen immer wieder angehalten werden, die wissenschaftliche Methode auch im Alltag anzuwenden (im Sinne des Entdeckungs- und Begründungskontextes): Eine Beobachtung machen, die Beobachtung hinterfragen, Informationen oder Daten sammeln, eine begründete Vermutung (Hypothese) aufstellen, die Hypothese mit weiteren Daten überprüfen, eine Erklärung formulieren. Die Alltagsumwelt besonders aufmerksam beobachten nach Vorgängen suchen, die man hinterfragen kann. Also um zu fragen „Warum passiert das?“ oder „Wie kommt dieses Phänomen zustande?“. Nach der Wiener-Denk-Werkstatt ist die Vorstellung, dass sich wissenschaftliches Denken grundlegend vom Alltagsdenken unterscheidet, ein Mythos (vgl. Haselbach 2000). Der wichtigste Grund dafür, dass es sich bei der Behauptung, wissenschaftliches Denken unterscheide sich grundlegend vom Alltagsdenken, um einen Mythos handelt, liegt schlicht darin, dass Denken so funktioniert, wie es das Gehirn erlaubt. Und das Gehirn ist dasselbe – in der Wissenschaft und im Alltag.

Im Alltag dient das verfügbare Wissen vor allem der Lösung praktischer Handlungsprobleme, während die Wissenschaft ihr Wissen nicht unbedingt mit diesem Anspruch befrachtet. Das Alltagswissen legt andere, weniger anspruchsvolle Gütekriterien ans eigene Wissen an als das wissenschaftliche Wissen. Es verzichtet auf Kriterien wie Zuverlässigkeit, intersubjektive Überprüfbarkeit, Gültigkeit, Objektivität, methodische Kontrolle, systematische Erhebung, Präzision der Sprache, Reflexion aller Erkenntnisse, Lernbereitschaft, Dokumentation aller Erkenntnisschritte, um nur einige zu nennen. Das Alltagswissen ist in Bezug auf seine Qualität weit aus bescheidener als das wissenschaftliche Wissen. Das wissenschaftliche Wissen ließe sich gegenüber dem Alltagswissen dahingehend unterscheiden, dass es sich nicht auf ungeprüfte, beliebige, intuitiv für richtig empfundene Aussagen verlässt. Es verlässt sich ebenfalls nicht auf die Worte von Weisen, Erleuchteten, Gurus, Propheten oder Herrschern. Beim wissenschaftlichen Wissen wird jede Aussage, egal von wem sie stammt, einer methodisch kontrollierten Überprüfung unterzogen, die je nach wissenschaftlichem Gebiet (Realwissenschaften/Formalwissenschaften (Mathematik und Logik); Naturwissenschaften/ Sozialwissenschaften/Philosophie) unterschiedlich ausfällt.

Also, kurzum: Wozu brauchen wir Menschen Wissenschaft und was genau ist das überhaupt? Beginnen wir mit der Beantwortung der ersten Frage, wozu man Wissenschaft „braucht“, was also der Nutzen von ihr ist. Nun ja, gerade heraus gesagt, mehr oder weniger Alles, was wir benutzen oder um uns herum existiert, gibt es überhaupt oder in dieser Form nur, weil es Wissenschaft gibt. Wenn Studierende also nichts von Wissenschaft halten, diese vielleicht sogar negativ bewerten ohne zu verstehen was sie ist und wie sie funktioniert, dann sollte man beachten, dass es viele Dinge des Alltags – ja auch den Laptop, das Smartphone usw. – nicht geben würde. Warum oder wozu benötigen wir Menschen also Wissenschaft? Um zu leben, so wie wir leben! Um dieses Leben so schön zu machen, wie es ist! So einfach ist das im Kern.

Die Beantwortung der zweiten Frage ist deutlich schwieriger und es gibt keinen vollständigen Konsens, was genau Wissenschaft ist und wie man sie definieren sollte. Im Kern ist sie eine Methode, die Wissen schafft. Die Methode funktioniert letztlich so, dass man eine Idee hat, wie etwas sein könnte. Man stellt also eine Behauptung auf und das nennt sich dann Hypothese. Im zweiten Schritt prüft man, welche Argumente und Belege es für und welche es gegen die Wahrheit dieser Hypothese gibt. Wie man dann entscheidet, ob die Hypothese wahr oder falsch ist, ist letztlich die hohe Schule der methodischen bzw. methodologischen Vorgehensweise, auf die ich in den Kursen auch immer wieder hinweise. Deshalb ist Wissenschaft so wichtig, weil man mit ihr in vielen Fällen entscheiden kann, ob eine Behauptung, Ansicht oder Idee wahr oder falsch ist.

 Literatur:

Bohl, T. (2008): Wissenschaftliches Arbeiten im Studium der Pädagogik. Arbeitsprozesse, Referate, Hausarbeiten, mündliche Prüfungen und mehr …. 3. Auflage. Weinheim: Beltz Verlag.

Fischer, F., Kollar, I., Stegmann, K., & Wecker, C. (2013). Toward a script theory of guidance in computer-supported collaborative learning. Educational Psychologist, 48(1), 56-66.

Fischer, F., & Järvelä, S. (2014). Methodological Advances in Research on Learning and Instruction and in the Learning Sciences. Frontline Learning Research, 2(4), 1-6.

Fischer, F., Kollar, I., Ufer, S., Sodian, B., Hussmann, H., Pekrun, R., et al. (2014). Scientific Reasoning and Argumentation: Advancing an Interdisciplinary Research Agenda in Education. Frontline Learning Research, 2(3), 28-45.

Haselbach, A. (2000). Alltag und wissenschaftliches Denken. In: Mitbestimmung, Heft 6/2000, Wien, S. 3-8.

Kotthaus, J. (2014): FAQ Wissenschaftliches Arbeiten. Stuttgart: UTB.

Zeuner, J. (2007). Welche Potentiale bietet Weiterbildung für die Bewältigung gesellschaftlicher Veränderungen im kommunalen und regionalen Umfeld? S. 7. http://www.lewus.de/download/ZeunerPerspektiven_derWB.pdf.

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