Digitale Ethik – einige grundlegende Gedanken

Digitale Ethik ist, nachdem es lange Zeit so schien, als bedürfe der Bereich des Digitalen keiner ethischen Reflexion (resp. sei dieser nicht zugänglich), zu einem Mode­wort avanciert, das in aller Munde und auf jeder Fachtagung und jeder Podiumsdiskussion zum Thema Digitalisierung äußerst aktuell ist.

So finden sich in vielen Abhandlungen in der ersten Phase der Digitalisierung diverse Hinweise, dass es aufgrund des geringen Interesses für ethische Fragen in den letzten zwei Jahrzehnten keine relevanten Arbeiten zum Thema digitale Ethik gibt. Das hat sich natürlich in den letzten Jahren stark verändert, ja in das Gegenteil verkehrt. Von „Ethikbedarf“ ist seit einigen Jahren die Rede, sobald Wissenschaftler und „Digitalkritiker“ auf die Digitalisierung zu sprechen kommen.

Einerseits wird der „Aufmerksamkeitsgewinn“ der digitalen Ethik zumeist eher exemplifiziert. Andererseits spiegelt sich für die Mehrzahl der digitalethischen Diskussionen und Untersuchungen charakteristisch wider, daß meistenteils Überlegungen sehr spezifisch auf exemplarisch herausgehobene Aspekte bezogen werden – hier eher individualethisch, da (systemtheoretisch fundiert) organisationsethisch – und unter dem Titel „digitale Ethik“ firmieren. Vergessen scheint dabei, daß digitale Ethik nur einen Teil der gesamten Digitalisierungsprozesse darstellt und daß die ethischen, mit den digitalen Entwicklungen und deren Wirkungen zusammenhängenden Probleme weit über die Objektivitäts- und Wahrheitsfrage hinausgehen. Ohne terminologische Haarspalterei betreiben zu wollen, so empfiehlt es sich doch, den Terminus „digitale Ethik“ auf eine den gesamten Bereich der gesellschaftlichen Digitalisierung thematisierende Ethik anzuwenden, dahingegen deren Teilbereiche mit spezifischen Termini zu versehen.

Was aber soll digitale Ethik sein, was soll sie leisten? Bereits vor 20 Jahren wurden diverse Überlegungen zu einer Medienethik im Kontext von Moral in der Werbung diskutiert (Friedrichsen/Jenzowsky 1999). Aufbauend auf damaligen Ausführungen sind die wesentlichen Überlegungen auf die heutige Debatte über die digitale Ethik übertragbar. Es zeigen sich interessante Parallelen in der Argumentationsweise und in der Problemsicht. Also alter Wein in neuen Schläuchen? Mitnichten, die Komplexität ist durch die Digitalisierung enorm angestiegen, jedoch sind die elementaren Fragen im Kontext von Ethik und Moral geblieben und aktueller als je zuvor.

Bevor überhaupt eine erste, sich dem Problemfeld annähernde Definition von digitaler Ethik gegeben werden kann, muß wohl der Frage nachgegangen werden, ob so etwas wie digitale Ethik vonnöten ist oder ob nicht einfach „die Durchsetzung der guten alten“ (Hügli 1992, S. 67) Moral gefragt ist. Wenn im Folgenden untersucht wird zu klären, ob es eine digitale Ethik geben kann, welche Schwierig­keiten sich aus der Anwendung moralischer Schemata insbesondere auf die gesellschaftliche Entwicklung ergeben und welche Kategorien von einer digitalen Ethik berücksichtigt werden müßten, liegt dem immer das folgende Verständnis zugrunde:

Digitale Ethik ist diejenige wissenschaftliche Disziplin, die ausgehend von dem Faktum der nicht mehr rückgängig zu machenden digitalen Transformation – d.h. der Allgegenwärtigkeit der Digitalsierung – und aus dem Bewußtsein heraus, daß diesem Faktum als lebenskonstitutivem Moment eine moralische Reglementierung gegeben werden kann und muß, (a) das digital Vermittelte („Was“), (b) die Präsentationsform des Vermittelten („Wie“) und (c) die Konsequenzen dieses Vermittelten für die Lebensgestaltung des Einzelnen („Mit welcher Konsequenz“) thematisiert und Kriterien bereitstellt, anhand deren innerhalb dieser Kategorien zwischen dem, was moralisch, und dem, was unmoralisch ist, differenziert werden kann.

Die Folgen des Zweifels an der Moral und Ethik in der digitalen Welt drücken sich insbesondere in Deutschland konkret in umfangreichen Diskussionen und Folgenabschätzungsdebatten aus. Die Debatte um die Folgen der Digitalisierung für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen entflammt jedoch immer wieder neu. Zumindest im Rückblick zeigt sich, daß die allgemeinen digital-kritischen Wellen kleiner geworden sind:

  • Der Spätmarxismus der sechziger Jahre wollte noch das gesamte Marktwirt­schaftssystem abschaffen. Die Kritik konzentrierte sich insbesondere auf den greifbaren Teil des noch jungen ökonomischen Systems: auf die Informationsbotschaften (vornehmlich in der Kritik die Werbung).
  • In den siebziger Jahren bedienten sich die Kulturkritiker nur noch des Axioms vom hilflosen Verbraucher, der vor irreführenden und unlauteren Informationen nur noch durch strengere Gesetze zu schützen sei.
  • In den achtziger Jahren konzentrierte sich die Kritik auf einzelne Konsumberei­che wie Zigaretten, alkoholische Getränke, Heilmittel sowie auf sensible Zonen gesellschaftlichen Lebens wie Gleichberechtigung der Frauen oder Schutz vor Jugendlichen und Kindern. Von verschiedenen Interessengruppen wurden teils drastische Maßnahmen für einzelne Branchen gefordert.
  • In den neunziger Jahren begann erneut eine Grundsatzdebatte um den Sinn von Werbekommunikation, insbesondere im Zusammenhang mit Fragen der Ethik und Moral. Ausgangspunkt waren vor allem provozierende Kommunikationsmaßnahmen.
  • Mit Beginn des neuen Jahrtausends verlagerte sich die Kommunikation mehr und mehr in das Internet. Somit entstanden neue Distributionskanäle und vollkommen neue Kommunikationsmuster. Die bisherigen Regelungen und gesetzlichen Maßnahmen konnten nur noch bedingt Anwendung finden.

Wie ein roter Faden zieht sich ein schwerwiegender Vorwurf an die Kommunikatoren durch die Jahrzehnte bis heute. Er wird häufig nicht ausgesprochen, ist aber tatsächlich gemeint: In der digitalen Welt gehe es grundsätzlich unmoralisch zu und es werde häufig gegen ethische Grundsätze verstossen. Sie manipuliere die Menschen dahin, daß sie zu fremdbestimmten Handlungen tendieren (aktuell Wahlen etc.). Da zweifellos die neuen digitalen Optionen für das Funktionieren der Marktwirtschaft gebraucht werden, wird immer häufiger gefordert, die Bandbreite der Aktionsmöglichkeiten so eng wie möglich gesetzlich zu bestimmen.

Der vordem moralisch Besorgte könnte, nachdem er seinen Blick über die Weite des Bereichs der digitalen Welt lange hat schweifen lassen, die Meinung vertreten, alles, was Wissenschaft hier zu leisten vermöge, sei reine Tatsachenbeschreibung; empirische Wissenschaft schlechthin, der allein nüchterne Deskription anheim gestellt sei, weil alle Präskription – alle normativen Bestimmungen also – schon geleistet worden sei und sich zudem auch behauptet hätte. Der Zweifel, ob sich das altehrwürdige Schema moralischer Begrifflichkeiten überhaupt auf das so junge Phänomen der Digitalisierung anwenden läßt, wird von der digitalen Realität als unbegründet weggewischt (weggezappt).

Diese Abhandlung bewegt sich im Rahmen eines Problemaufrisses innerhalb eines interdisziplinären Bereichs (Philosophie, Ökonomie, Kommunikation), dem lange Zeit wenig, in jüngster Zeit überbordend viel Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Ein Problemaufriß, der sich nicht damit begnügt, den moralischen Zeigefinger auf den einen oder anderen Ausrutscher dieser oder jener digitalen Protagonisten zu legen und die moralische Empörung darüber andeutend zu erklären. Nein, es sollte hier der Versuch unternommen werden zu skizzieren, warum Ethik und Digitalisierung miteinander in Konflikt geraten können, welche verschiedenartigen Facetten eine auf die Digitalisierung angewandte Ethik haben muß und warum es kein einheitliches, zusammenhängendes (sich gleichsam aus einem Axiom herleitendes) Regelsystem gibt. In gewisser Weise also: ein moralisches Echolot, das die Problemtiefen erst vermessen soll. Grundsätzlich und übergreifend bleibt festzuhalten:

(1)    Auf die der Moral in ihrer jeweiligen Spezifikation zugrundeliegenden Werte muß reflektiert werden; die Ethiktypen, sei es die Individual- , die Sozial-, sei es die Unternehmensethik und das staatlich institutionalisierte ethische Regle­ment, müssen jeweils für sich auf ihre Besonderheiten hin analysiert werden.

(2)    Die Verhältnisformen ökonomischer und moralischer Rationaliät müssen ge­nauer, tiefergehend betrachtet werden.

(3)    Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die individuelle Gestaltung mensch­lichen Daseins dürfen nicht nur Gegenstand allgemein politischer sowie gesellschaftlicher Untersuchungen sein, sondern auch und besonders philosophischer.

(4)    Der Frage muß sich zugewandt werden, ob (a) viele unverbundene Einzelvor­schriften (wie dies der Status Quo ist) oder (b) ein Regelsystem besser ist.

(5)    Die Möglichkeit einer digitalen Ethik zur Selbstaktualisierung muß thematisiert werden: Bei der Geschwindigkeit der Veränderungen muß es ein Moment innerhalb dieser Ethik geben, das diesem Umstand Rechnung trägt.

(6)    Thematisierung des nicht justitiablen Bereichs; dies verweist auch auf die Notwendigkeit einer Intensivierung der Bemühungen um den User/Rezipienten. Denn wenn keines der Regelsystems anwendbar ist, weil die neuen digitalen Techniken immer neue Wege öffnen, bleibt es immer noch in der Macht des Users/Rezipienten, das Dargebotene nicht zu konsumieren. Dies ist nicht zuletzt auch eine Frage der digitalen Kompetenz.

Alles in allem scheinen die obigen Ausführungen untrüglich dafür zu sprechen, daß intensivste ethische (!) Bemühungen unternommen werden müssen, eine allumfas­sende digitale Ethik auszuarbeiten.

 

Die ausführliche Version dieser Abhandlung wird zeitnah veröffentlicht. Eine Vorabversion kann via Email an mail@mike-friedrichsen.de angefordert werden.

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